Matthias Preuße
Neulich am Tresen

Da ist er wieder, mein einer freier Tag der Woche. Heute sitze ich neben Kristin am Tresen. Kristin ist blond und Ende 30. Sie trinkt das Flaschenbier im Schnelldurchlauf. Ich spüre ihre miese Laune.
Unerwartet kommen wir doch ins Gespräch und ich verstehe den Grund. Sie ist Lehrerin und hat heute ihren ersten Tag in der neuen Klasse. 50 Prozent der Schüler sind „auffällig“. Kristin hat eine psychologische Zusatzqualifikation und weiß: das wird hart.
Ich bin selber Vater, habe viel gehört. Über ADHS, Asperger, Allergien und diverse nebulöse Krankheitsbilder. Ich nutzte die Gelegenheit für Fragen. Kristin beschreibt, erklärt, berichtet und beantwortet. Ein Begriff taucht immer wieder auf, der „Krankheitsgewinn“. Ich bitte um Erklärung für Laien.
Sie schmunzelt: „Jeder kennt Männergrippe. Jeder weiß aber auch, das hat nicht alles mit Grippe zu tun. Sobald die Krankheit diagnostiziert ist, gibt es positive Nebenwirkungen – den Krankheitsgewinn: Entlastung, Zuwendung, Rücksicht, Mitleid.“
In unserer schnellen, digitalen und unpersönlichen Zeit spielt der Krankheitsgewinn fast immer eine Rolle. Es gibt ihn aber nicht als teure Medizin. Er erscheint in keinem Befund. Das Prinzip ist einfach und funktioniert nahezu immer. Es gehört es bei einigen zum Leben dazu, krank zu sein oder sich schlecht zu fühlen: Der Krankheitsgewinn fühlt sich an wie eine Belohnung, erzeugt positive Empfindungen. Es ist wie Konditionierung: Aktion mit positiver Reaktion. So wird es Gewohnheit, das Verhalten automatisiert. Allerdings: ohne Krankheit kein Gewinn.
Das wirft ein anderes Licht auf den Leidenden. Ich denke an all das Gejammer und die Erzählungen über Wehwechen und Unwohlsein.. Ich bin froh, nicht krank sein zu müssen, um Zuwendung und Aufmerksamkeit zu bekommen. Und ich bin froh, gesund zu sein.
Ab sofort sage ich: mir geht es gut.

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